Über den Mut, in schwierigen Zeiten trotzdem zu handeln

Vielleicht können wir es kaum noch hören: “Eine Krise jagt die nächste". Oder das neue Trend(un)wort: Polykrise. Denn manchmal fällt es uns einfach schwer die Augen offen zu halten, wenn es dunkel wird. Auch wenn die Menschheitsgeschichte schon immer von Herausforderungen geprägt war, fühlen sich die aktuellen Zeiten für viele von uns besonders belastend an. Ich finde, es ist wichtig, das zu benennen.

Was ich dabei oft beobachte, ist die Angst vor dem „Negativen“. So, als könnte man es fernhalten, indem man es nicht anschaut, nicht darüber spricht. Doch das funktioniert nicht – und das ist auch garnicht nötig.
Ein weises Herz fürchtet keine Schwierigkeit. Es weiß, dass Krisen Teil des Lebens sind und dass in ihnen immer auch etwas steckt, das wir lernen können. Wenn wir an vergangene Herausforderungen zurückdenken, die wir gemeistert haben, erkennen wir oft: Sie haben uns geprägt und etwas Wertvolles hinterlassen.

Für mich ist es dabei wichtig, anzuerkennen, was ist. Neben Pessimismus und Optimismus gibt es noch etwas Drittes: Realismus. Ich erinnere mich an eine Studie, die eine ehemalige Psychologie-Dozentin zitiert hat. Sie zeigte, dass die „beste“ Haltung, die uns sowohl zufriedener als auch wirksamer macht, eine Mischung aus Realismus und Optimismus ist.
Denn so wie Pessimismus lähmen kann, tut es auch der blinde Optimismus. Wer immer nur vom Besten ausgeht, verkennt manchmal die Realität oder wird passiv – nach dem Motto „Es wird schon gutgehen“.

Dabei gibt es immer auch eine andere Wahrheit. Helen Keller sagte einmal:

„Although the world is full of suffering, it is full also of the overcoming of it.“

Diesen Gedanken möchte ich aufgreifen. Es geht darum, was wir tun können – in Zeiten wie diesen, in denen die Zukunft ungewiss scheint, unser Alltag uns immer weniger Raum für das gibt, was uns wirklich wichtig ist, und unsere psychische Gesundheit auf die Probe gestellt wird. Die großen Krisen und Herausforderungen muss ich hier nicht einmal benennen – sie begegnen uns allen täglich.

Viele Menschen ziehen sich in diesen Zeiten zurück, betäuben sich oder wenden ihren Ärger gegen sich und andere. Das sind bekannte Reaktionen auf Stress, doch sie bringen uns nicht weiter. Was wir stattdessen tun könnten, wäre diese Schwierigkeiten als Teil unserer menschlichen Existenz anzuerkennen. Ihnen offen zu begegnen – und sie als Möglichkeit zu sehen, unsere Werte zu hinterfragen und neu zu leben.

Es stimmt: Vieles, was gerade passiert, ist harte Realität. Doch es ist ebenso wahr, dass nichts bleibt, wie es ist. Alles ist in ständigem Fluss. Die Welt dreht sich weiter, egal wer versucht, sie daran zu hindern oder sie gar zurückzudrehen. Und nichts ist jemals umsonst. Jede unserer Handlungen hat Bedeutung, für uns selbst, andere und das, was uns zusammenhält.

Und genau darum geht es mir: Handlung zählt, und zwar in so vielerlei Hinsicht Zum einen für uns selbst, denn sie hilft uns, aus der erlernten Hilflosigkeit auszubrechen und zu mehr Selbstwirksamkeit zu finden. Wir übernehmen Verantwortung für unser Tun, was uns wiederum zu mehr Selbstvertrauen führt. Das ist ein positiver Kreislauf. Zum anderen inspiriert unser Handeln auch andere, sich uns anzuschließen und ebenfalls aktiv zu werden. Denn Veränderungen beginnen oft mit dem Mut einer einzelnen Person, und dieser Mut kann eine ganze Welle auslösen.

Es gab immer die wenigen Menschen, die viel riskiert haben, um eine bessere Zukunft zu schaffen – manchmal sogar ihr Leben. Sie haben für die Freiheit gekämpft, die wir heute genießen, und vieles von dem, was wir als selbstverständlich ansehen, verdanken wir denjenigen, die sich nicht unterkriegen ließen von Macht und Unmenschlichkeit.

Mich hat ein Interview mit einer der letzten noch lebenden KZ-Überlebenden tief bewegt. Ihre Worte lauteten etwa so: „Wir können immer aus dem Schrecklichen lernen und dafür sorgen, dass sich solche Gräueltaten nicht wiederholen. Doch wenn wir nicht aufpassen, kann uns dieses Wissen auch verloren gehen.“

Denn was all die Verdrängungs- und Coping-Mechanismen, die sich in schwierigen Zeiten verstärkt zeigen, mit sich bringen, ist ein schleichender Prozess der Passivität. Und das ist das Gefährlichste, was passieren kann: Wenn niemand mehr aufsteht, wenn niemand mehr den Mut hat, einzuschreiten oder sich für das Richtige einzusetzen, dann verlieren wir uns selbst und die Welt. Doch in jeder Situation bleibt uns die Möglichkeit, zu handeln – und die Freiheit, zu entscheiden, wie wir reagieren.

Viktor Frankl beschrieb den freien Willen als die treibende Kraft des Menschen. Jack Kornfield führt diesen Gedanken noch weiter:

„You get to choose your spirit, no matter what.“

Selbst in scheinbar ausweglosen Situationen bleibt uns die Möglichkeit, eine Wahl zu treffen. Auch wenn wir die äußeren Umstände nicht verändern können, können wir entscheiden, wie wir auf sie blicken und uns dem stellen.

Es ist kein Zufall, dass wir hier sind. Wenn wir daran denken, wie viele Lebewesen auf dieser Welt existieren, ist es fast ein Wunder, dass gerade wir als Menschen diese Chance bekommen haben, zu leben. Und als Mensch sind wir einzigartig – ein großartiges Zusammenspiel aus Fähigkeiten, Wünschen und Ambitionen, die uns zu dem machen, was wir sind. Jede Person trägt eine besondere Gabe in sich, die nur sie in dieser Welt einbringen kann.

Stellen wir uns vor, wir pflanzen einen Baum. Vielleicht ist es nur ein kleiner Baum in einem großen Wald. Aber ohne diesen Baum wäre der Wald ein bisschen weniger lebendig. Vielleicht ist es gerade dieser Baum, der mit seinen vielen Ästen Generationen von Tieren ein Zuhause bietet. Oder der, vom starken Wind gebeugt, besonders schöne Formen annimmt. So ist es auch mit unserem Handeln. Was immer wir im Leben tun, es mag unwichtig erscheinen, aber es ist wichtig, dass wir es tun, weil niemand sonst es tun wird und weil wir nie wissen können, wie wichtig es ist.

Wir sind nichts - und doch sind wir alles. In der Masse der Menschen ist jede*r von uns einzigartig. Es ist unser Beitrag, der einen Unterschied machen kann. In unserer vermeintlichen Bedeutungslosigkeit liegt unsere größte Stärke, denn auch mit scheinbar kleinen Taten können wir unvorstellbar Großes bewirken.

Dazu möchte ich drei Bücher empfehlen, die helfen können, diesen Weg zu gehen – einen Weg, der Mut macht, die Welt zu gestalten, anstatt sich ihr auszuliefern.

Denn am Ende liegt die Wahl bei uns: Verdrängung oder Verantwortung, Passivität oder Handeln, vergeudete Lebenszeit oder ein kostbares Leben, das wir bewusst führen.

  1. “Im Grunde gut” von Rutger Bregman:
    Dieses Buch erinnert uns daran, dass der Mensch im Kern eine zutiefst freundliche Spezies ist. Es widerlegt die Annahme, dass wir von Natur aus egoistisch oder destruktiv seien. Bregman zeigt mit einer Mischung aus wissenschaftlichen Studien und Ereignissen aus der Geschichte, dass unsere Stärke in Kooperation, Mitgefühl und Hoffnung liegt. Gerade in Zeiten, in denen uns viele negative Bilder und Nachrichten begegnen, kann dieses Buch helfen, den Glauben an das Gute im Menschen zu bewahren und daran zu erinnern, dass wir nur gemeinsam überleben können.

  2. “The Choice” von Edith Eva Eger:
    Ähnlich wie Viktor Frankl hat auch die Psychologin Edith Eva Eger den Holocaust überlebt und beschreibt in diesem Buch, wie diese Erfahrungen ihre Innenwelt bis heute prägen. Es ist ein Buch voller Ehrlichkeit, das uns zeigt, wie wir uns selbst in den dunkelsten Zeiten treu bleiben können. Es lehrt uns, wie wir die Freiheit behalten, unsere Haltung und unsere Entscheidungen zu gestalten – unabhängig davon, was um uns herum geschieht. Ein zutiefst bewegendes und hoffnungsvolles Buch, das daran erinnert, niemals aufzugeben und daran zu glauben, dass wir unser Leben auch in schwierigen Situationen aktiv gestalten können.

  3. “The Myth of Normal” von Gabor Maté:
    Dieses Buch hinterfragt, was wir als „normal“ wahrnehmen. Nur weil wir uns an etwas gewöhnt haben, heißt das nicht, dass es wirklich gesund oder gut ist – weder für uns selbst noch für die Gesellschaft. Gabor Maté zeigt eindrücklich, wie unser Wohlbefinden von gesellschaftlichen und systemischen Faktoren beeinflusst wird, und dass wir uns dem nicht einfach entziehen können. Diese Erkenntnis nimmt uns die übermäßige Verantwortung, die viele von uns auf ihre Schultern laden. Gleichzeitig werden uns aber auch größere Zusammenhänge bewusst, die wichtig sind, um unser eigenes Wohlbefinden in einem ganzheitlichen Kontext zu verstehen.

Alles ist im Wandel. Nichts bleibt stehen. Und jede Entscheidung zählt, denn sie bestimmt die Richtung in die wir gemeinsam gehen.

Ich wünsche mir, dass wir immer öfter den Mut haben, uns für das zu entscheiden, was wirklich zählt, aufzustehen wenn wir Unrecht sehen und uns für das einzusetzen, wonach unser Herz ruft.

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Über den Umgang mit Emotionen