Über den Streit mit uns Selbst

Warum stehen so viele Menschen – bewusst oder unbewusst – in einem schwierigen Kontakt mit sich selbst, und wie könnte unser Leben aussehen, wenn das anders wäre?

Nicht nur im Coaching, sondern überall fällt mir auf, wie hart viele Menschen mit sich selbst ins Gericht gehen. Aussagen wie “Ich bin einfach unfähig” oder "Ich schaffe das sowieso nicht" schmerzen mich jedes Mal, wenn ich sie höre. Oft sind sie humorvoll getarnt und kommen als Selbstzynismus daher. Oder als überschwängliche Entschuldigung, die gar nicht nötig ist. Es ist fast so, als würden sich manche dafür entschuldigen, dass sie überhaupt existieren. Und diese Äußerungen sind oft nur die Spitze des Eisbergs der Selbstkritik.

Die Überschrift dieses Texts klingt erstmal hart. Streit ist ein starkes Wort, Konflikt mögen die wenigsten von uns. So werden einige direkt sagen: “Ich bin doch nicht im Streit mit mir!” Doch der Streit mit uns selbst hat viele Gesichter: Selbstkritik, Unzufriedenheit, Scham oder überzogene Erwartungen sind nur einige davon. Wie wir mit uns selbst reden, beeinflusst auch unseren Umgang mit anderen. Wenn wir ungerecht oder verurteilend sind, spiegelt das oft unseren inneren Konflikt wider. Diese Muster wurden meist früh geprägt und sind uns oft nicht bewusst.

Sich selbst gut zu behandeln ist nicht einfach, aber es ist der Schlüssel zu erfüllten Beziehungen. In diesem Newsletter möchte ich erkunden, woher dieser ungute Umgang mit uns kommt, was wir stattdessen anstreben könnten und wie wir dahin kommen.

Wenn wir gut mit uns selbst umgehen, öffnen wir uns für das Gute in anderen und in der Welt.

Woher kommt das?

Wenn wir anderen gegenüber ungeduldig oder überkritisch sind oder Schwierigkeiten haben, Mitgefühl zu zeigen, sind das gute Hinweise. Im Kontakt mit anderen wird oft sichtbar, was uns selbst verborgen bleibt. Warum? Weil wir es gewohnt sind, weil wir es nicht anders kennen, weil diese Muster oft sehr früh geprägt wurden. Eine verinnerlichte Sprache, wie unsere Eltern mit uns umgegangen sind (wie oft soll ich es dir noch erklären, bei anderen klappt es doch auch, du willst das einfach nicht verstehen...) oder die eigene Abwertung als Mechanismus aufgrund mangelnder Beachtung oder Wertschätzung durch unsere wichtigsten Bezugspersonen. Denn bevor wir unsere Schutzpersonen abwerten und damit unsere Sicherheit aufs Spiel setzen, werten wir besser uns selbst ab.

Auch in der Bildung fehlen oft gute Vorbilder. Wie oft ging es in der Schulzeit darum, sich konstruktiv mit sich selbst auseinanderzusetzen? In der Arbeitswelt ist es ähnlich. Entwicklungsgespräche fokussieren sich meistens auf das Ausmerzen von Schwächen statt auf die Stärken. Viele Initiativen – und leider oft auch Coachings – zielen darauf ab, uns zu verbessern, statt uns beizubringen, wohlwollend auf uns selbst zu blicken.

Gesellschaftliche Ideale und übertriebene Standards, die durch soziale Medien verstärkt werden, haben zunehmend ihren Preis. Wir messen uns an anderen und laufen Gefahr, uns selbst abzuwerten. Wenn es scheinbar alle anderen mühelos schaffen, kann es nur an uns liegen, wenn es nicht gelingt.

In meinen Coachings geht es häufig darum, wie sich dieses negative Selbstbild ausdrückt. Oft sind Menschen sich dessen wenig bewusst. Hier sind ein paar Fragen zur Selbstreflexion, die du für dich beantworten kannst:

  • In welchen Situationen gehst du kritisch mit dir um?

  • Wie blickst du selbst auf dich, wenn du besonders kritisch bist?

  • Wer hat maßgeblich geprägt wie du mit dir selbst umgehst?

  • Wodurch wurden deine bekanntesten Glaubenssätze geprägt?

  • Wofür ist es nötig, so streng mit dir zu sein; was sind die Befürchtungen wenn du es nicht bist?

  • Wie möchtest du in Zukunft gerne auf dich selbst blicken?

  • Was steht dem im Weg?

Was ist erstrebenswert?

Am schlechtesten gehen wir in der Regel mit uns selbst um, wenn uns etwas nicht gelingt, wenn wir Ziele nicht erreichen oder andere enttäuschen. Wir geben uns selbst die Schuld, denken alle anderen könnten es besser und auch wir hätten es besser wissen müssen. Das ist paradox, denn wenn wir es besser gewusst hätten, hätten wir wahrscheinlich auch entsprechend gehandelt. Mir hilft es, davon auszugehen, dass jeder Mensch in jedem Moment nach bestem Wissen und Gewissen handelt.

Und was ist mit Selbstliebe?

Der Begriff "Selbstliebe" bereitet mir oft Kopfzerbrechen. Für einige mag es hilfreich sein, danach zu streben, aber der Anspruch ist für die meisten Menschen zu hoch und erzeugt unnötigen Druck. Besonders skeptisch bin ich bei denen, die diese Selbstliebe zu sehr im Außen proklamieren. Ich glaube, dahinter steckt oft nur ein Coping, keine aufrichtige Selbstliebe. Ich weiß, wovon ich spreche, denn ich arbeite seit Jahren bewusst daran, und trotzdem würde ich nicht sagen, dass ich mich selbst liebe. Ich würde sagen, ich mag mich, so wie ich bin. Das ist mein Weg, mit mir selbst und allem was zu mir gehört in gutem Kontakt zu sein. Ganz grundsätzlich, das ist wichtig, denn es darf sehr wohl Tage der Ausnahme geben.
Auch sich selbst ok zu finden ist in meinen Augen völlig ausreichend. Selbstakzeptanz ist ein Begriff dafür und auch ein Konzept, das ich sehr gerne mag. Selbstakzeptanz liegt in der gesunden Mitte zwischen Selbstablehnung und Selbsterhöhung. Akzeptanz beinhaltet, etwas so anzunehmen wie es ist, ohne es immer gut finden zu müssen. Und ebnet damit auch den Weg für Veränderung. Wahre Akzeptanz kann nicht aus dem Verstand kommen, wir können etwas nicht akzeptieren wollen. Wahre Akzeptanz kommt aus dem Herzen, denn das Herz wertet nicht, teilt nicht in gut oder schlecht. Wenn wir das verinnerlichen, beginnt sogar der Begriff der Selbstliebe in einem anderen Licht zu erscheinen.

Ich glaube, wenn wir uns selbst mehr akzeptieren würden, wären wir nicht so hart zu uns selbst und damit auch nicht so hart zu anderen. Viele Konflikte würden gar nicht erst entstehen, weil wir Verständnis für unsere gemeinsame Unvollkommenheit hätten. Vielleicht könnten wir sogar lernen, genau diese Unvollkommenheit wertzuschätzen. Die Ecken und Kanten, das Unfertige, the work in progress. Viele Produkte, die der Optimierung dienen, würden vom Markt verschwinden. Es ginge überhaupt gar nicht mehr um Optimierung, sondern um den wahren Wert. Wir würden uns die Zeit nehmen, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind, anstatt uns von überzogenen Erwartungen an uns selbst und andere leiten zu lassen. Unsere Gesellschaft wäre ruhiger, nicht von Stillstand geprägt, sondern von gesunder Entwicklung in einem natürlichen Tempo. In einem Tempo, das niemanden überfordert oder abhängt, sondern das uns alle gemeinsam teilhaben lässt.

Ist das nicht ein schönes Bild? Wir alle können jeden Tag dazu beitragen es wahr werden zu lassen.

Wie erlangen wir mehr Selbstakzeptanz?

„The attempt to escape from pain creates more pain.“

Ein weiser Satz von Gabor Maté. Hinter unserer Selbstkritik verbirgt sich oft ein tieferer Schmerz. Wenn wir vermeiden, uns mit diesem Schmerz auseinanderzusetzen, verstärken wir ihn oft ungewollt. Gefühle sind dazu da, gehört zu werden. Statt Selbstablehnung ist daher Selbstmitgefühl ein vielversprechender Ansatz. Selbstmitgefühl bedeutet, mit sich selbst so umzugehen, wie man es mit einer guten Freundin tun würde. So lautet eine Beschreibung aus der psychologischen Forschung von Kristin Neff und Chris Germer. Es bedeutet, sich selbst Geborgenheit zu bieten, wenn die inneren Kritiker laut werden. Dieser Ansatz beinhaltet Achtsamkeit, gemeinsame Menschlichkeit und Selbstfreundlichkeit, die ich im Folgenden kurz erläutern möchte.

Achtsamkeit

Statt sich in negative Gedanken zu verstricken, sich mit negativen Gefühlen zu überidentifizieren, ist ein achtsamer Umgang mit sich selbst hilfreich. Achtsamkeit ist nichts anderes als bewusste Selbstwahrnehmung, sich selbst mit Wohlwollen und Interesse zu beobachten. Dieser Schritt ist notwendig, um überhaupt zu bemerken, wie wir mit uns selbst umgehen, denn wie bereits erwähnt, ist dies oft ein unbewusster und automatisierter Prozess. Wenn wir achtsam sind, können wir eine andere Perspektive einnehmen. Wir können eine gesunde Distanz zu uns selbst entwickeln und uns so noch einmal fragen, ob die Selbstverurteilung wirklich gerechtfertigt und notwendig ist.

Gemeinsames Menschsein

Gemeinsames Menschsein bedeutet zu verstehen, dass wir alle Menschen sind und dass alle Menschen fehlbar sind. Es liegt in der Natur des Menschen, Fehler zu machen. Nur Maschinen sind perfekt. Und dafür haben diese weder Herz noch Bewusstsein. Vielmehr brauchen wir genau diese “Fehler”, um uns zu entwickeln und zu lernen. Und genauso gehört zum Leben nicht nur das Schöne, sondern auch der Schmerz. Ohne Schmerz gäbe es auch keine Freude zu empfinden. Es ist menschlich, etwas nicht zu wissen, sich nicht wohl zu fühlen, schlechte Tage zu haben - das geht uns allen so, und sich dessen bewusst zu werden, kann sehr heilsam sein. Anstatt uns aus Scham zu isolieren, hilft uns das Verständnis geteilter Menschlichkeit, mit anderen zu teilen oder andere mit Verständnis zu empfangen. Es öffnet das Herz für Trost und Mitgefühl.

Selbstfreundlichkeit

Mit Selbstfreundlichkeit setzen wir auf Freundlichkeit, statt uns selbst zu kritisieren und zu bekämpfen. Freundlich zu sich selbst zu sein ist wie eine Umarmung, wie das Da-Sein für sich selbst. Trost spenden, sich Sorgen anhören, Es bedeutet, sich Trost zu spenden, sich Sorgen anzuhören und Mut zu machen – all das, was wir für einen lieben Menschen in einer schwierigen Situation tun würden. Wenn es schwer fällt, kann es hilfreich sein, sich genau das vorzustellen: Wie würdest du mit deiner besten Freundin sprechen oder mit einem Kind?

Zum Schluss möchte ich noch etwas sagen, was ich mit Sicherheit weiß: Selbstakzeptanz ist ein Prozess. Und so wie die Welt im Wandel ist, bist vielleicht auch du gerade im Wandel. Ich bin es definitiv, und dabei ist Musik eine gute Begleitung für mich. Als Goodie habe ich deshalb noch eine Playlist für dich zusammengestellt.

Ich empfehle dir, sie dir im Liegen anzuhören. Mit geschlossenen Augen und mit dem Boden verbunden, so dass du wahrnehmen kannst was sich regt. To let the music guide your journey :-)

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